Über die Zeit: Wie das Leben so spielt

Fabian und Patrik auf der Mahnwache am Brandenburger Tor in Berlin am 18.08.14

Gerd B. Achenbach:

... wer begriffen hat, daß alles, was ihm zu leben vergönnt war, sein Leben ist, der wird mit jedem Tag, der ihm geschenkt ist, um einen Tag reicher. Dem verrinnt die Zeit nicht, den erfüllt sie. Dem fließt sie zu. So gewinnt er sie.

Marteria - Sekundenschlaf (Offizielles Musikvideo)

Seneca: De brevitate vitae

Das Buch umfasst 20 Kapitel.

1–3

Viele Menschen jammern über die Kürze des Lebens, selbst ein Philosoph wie Aristoteles. Eine falsche Klage, das Leben ist lang genug, wenn es genutzt wird. Die Menschen verschwenden ihre Lebenszeit aufgrund von Gier, Ehrgeiz, Neid, Begierden und Unbeständigkeit. Dies gilt nicht nur für in schlechtem Ruf stehende, sondern auch für berühmte und geehrte Personen. Sie geben ihre Zeit anderen, ihr Leben gehört nicht ihnen, dagegen bewachen sie ihr Eigentum sorgfältig. Selbst von einem hohen Alter nutzten sie für sich nur wenig und sterben unvorbereitet.

4–6

Dass jeder Tag der letzte sein kann, die Endlichkeit des Lebens und die Ungewissheit seiner Dauer vergessen viele. Sie leben, als wären sie unsterblich, und verschieben auf die unsichere Zukunft, für sich selbst zu leben. Mächtige und Erfolgreiche wie Augustus, Cicero und Livius Drusus wollten, wenn es ohne Gefahr möglich wäre, ihre Stellung mit der Muße vertauschen. Äußerlich scheinen sie glücklich, jedoch bedrohen sie immer Zufall und Gefahren. Sie klagen über ihr Leben; dies ändert weder sie noch andere, immer bleiben sie bei ihren Leidenschaften. Die dem Alkohol, Speisen und der Wollust Ergebenen verprassen die fliehende Zeit. Das gilt auch für die mit Geschäften Beladenen.

7–9

Allein die Philosophie lehrt richtig leben und sterben. Vielen werden ihre mühsam angestrebten Erfolge beschwerlich, sobald sie dieselben erreicht haben. Sie wünschen sich anderes für die Zukunft und ekeln sich vor der Gegenwart. Nutzt man jeden Tag, als ob er das Leben wäre, fürchtet oder sehnt man sich nicht nach der Zukunft. Da die Zeit etwas Unkörperliches ist, scheint sie den Menschen nichts zu kosten, sie rechnen nicht mit ihr. Sie kommen dem Tod immer näher, für den sie Zeit haben müssen; droht der Tod unmittelbar, erkennen sie erst den Wert der Zeit und flehen um Aufschub. Man verliert viel vom Leben, wenn man mit der unbestimmten Zukunft plant und aufschiebt.

10–15

Niemand entgeht dem Tod
Das Leben teilt sich in die flüchtige Gegenwart, die unabänderliche Vergangenheit und die ungewisse Zukunft. Die Geschäftigen haben keine Zeit sich der Vergangenheit zu erinnern, und hätten sie diese, so wäre ihnen ihre Vergangenheit unerfreulich. Die Gegenwart vertun sie. Ein Leben ohne Geschäfte, verbracht mit Sammeln von Gegenständen, Betrachten von Wettkämpfen, Körperpflege, Spielen, Sport, unbedeutender Kunst, sinnlosen Forschungen, Anhäufen von unnützem Wissen, Orgien oder in Abgestumpftheit, ist keine Muße. Diese genießt allein, wer sich der Weisheit widmet. Ihm steht alles Hervorragende und Gute der Vergangenheit jederzeit zur Verfügung. Man kann mit allen Weisen früherer Zeiten umgehen, indem man sich mit ihren Lehren und Leben beschäftigt, und auf diese Weise Unsterblichkeit erlangen, da die Weisheit nie vergeht.

16,17

Die Geschäftigen wollen bisweilen sterben, weil sie die ereignislose Zeit zwischen ihren Beschäftigungen und Vergnügungen langweilt. Ihre oberflächlichen Freuden genießen sie furchtsam, da deren Dauer unsicher ist.

18–20

Paulinus soll sich in das Privatleben zurückziehen. Nicht in träges Nichtstun verfallen, sondern sich mit der Philosophie, welche für einen begabten Geist wie ihn würdiger als die Verwaltung der Getreidevorräte sei, beschäftigen. Die Geschäftigen verlieren ihr Leben in unbefriedigenden Tätigkeiten. Diese sollten, weil sie wenig gelebt haben, bei Nacht beerdigt werden (in Rom wurden auf diese Weise Kinderleichen bestattet)

Weitere Quellen

  • Jetzt oder nie! | Die Liebe auf den ersten Blick, die einmalige berufliche Chance, der Moment der Erleuchtung – die alten Griechen hatten einen Begriff dafür: Kairos. Die göttliche Gelegenheit, die es zu ergreifen gilt. Nur, wie erkennt man sie? Eine Reise zu Menschen, die dem Kairos auf der Spur sind. von Christoph Kucklick
  • Und sie vergeht doch | Ulf von Rauchhaupt kommentiert einen Vortrag von Tim Maudlin
  • Zitate mit dem Begriff "Zeit"

Die Zeit im freimaurerischen Sinne

Antoine de Saint-Exupéry (1900 – 1944), schrieb 1939 im Werk Terre des Hommes:

«Das, worauf es im Leben am meisten ankommt, können wir nicht voraussehen. Die schönste Freude erlebt man immer da, wo man sie am wenigsten erwartet hat. Diese Sternstunden lassen eine so tiefe Sehnsucht im Herzen zurück, dass manche Menschen Heimweh nach ihren trübsten Zeiten fühlen, wenn diesen ihre Freuden entsprossen sind».

Thomas Mann (1875 – 1955), Zauberberg, 6. Kapitel: «Die Kürze der Lebenszeit steht in argem Missverhältnis zur Fülle unserer Aufgaben, Ziele und Wünsche. Auch andere Dinge sind knapp: das Geld, die Arbeit und das Vergnügen. Die Zeit ist jedoch ein besonderes Mangelgut. Jeder gelebte Tag unseres Lebens bringt uns ein Stück dem Ende unserer irdischen Zeit näher. Jeder Tag, den wir durchleben ohne zu leben, ist verloren und lässt sich durch nichts auf der Welt zurückgewinnen».

Um den Wert eines Jahres zu erfahren, frage einen Studenten, der im Schlussexamen durchgefallen ist.

Um den Wert eines Monats zu erfahren, frage eine Mutter, die ein Kind zu früh zur Welt gebracht hat.

Um den Wert einer Woche zu erfahren, frage den Herausgeber einer Wochenzeitschrift.

Um den Wert einer Stunde zu erfahren, frage die Verlobten, die darauf warten, sich zu sehen.

Um den Wert einer Minute zu erfahren, frage jemanden, der seinen Zug, seinen Bus oder seinen Flug verpasst hat.

Um den Wert einer Sekunde zu erfahren, frage jemanden, der einen Unfall erlebt hat.

Um den Wert einer Millisekunde zu erfahren, frage jemanden, der bei den Olympischen Spielen eine Silbermedaille gewonnen hat.

Und zum Abschluss zitiere ich Rainer Maria Rilke (1875 – 1926) der geschrieben hat:«Wunderliches Wort ‚Die Zeit vertreiben’ – sie zu halten wäre das Problem».